Die Salzwiesen - Leseprobe

Roman, 2016, Amazon CreateSpace, (c) edition eiva - erhältlich bei Amazon
250 Seiten, 10 €, Kindle edition 4,99 €
ISBN-10: 1530449103, ISBN-13: 978-1530449101
Die Salzwiesen Der Fotgraf Huwald hat Fotos in der Siedlung gemacht,
die »Salzwiesen« genannt wird
Ich schloss sorgfältig die Tür und zog den schwarzen Vorhang vor, um jedes Licht auszuschließen. Dann schaltete ich die Spezialbeleuchtung ein, nahm den Film aus der Kamera und legte ihn in die Entwicklerlösung. Wie immer musste ich meine Neugier bezwingen, um bei langsamerer Bewegung und niedriger Temperatur die besten Ergebnisse zu erzielen, und beobachtete gespannt, wie die Fotos langsam Konturen bekamen. Die weiteren Schritte waren Routine und endlich konnte ich die ersten Bilder an die Leine zum Trocknen heften. Ich schaltete das Rotlicht aus und das Licht an.
Das erste Foto zeigte die Frau. Sie hatte nicht bemerkt, dass ich sie fotografiert hatte, bevor sie grußlos an mir vorbei gelaufen war. Das Foto zeigte sie bergauf steigend, den großen Hund an ihrer Seite. In ihren halblangen dunklen Locken ahnte man den Wind, der sie in ihr Gesicht wehte, aber die starken Brauen und darunter die Augen freiließ. Ich betrachtete das Foto lange. Sie sah nicht verwahrlost aus, obwohl ihre Kleidung nicht neu war, die Hosenbeine der Jeans waren aufgeschlagen, schlanke Füße steckten sockenlos in Turnschuhen; sie trug keine Bluse, eher ein Hemd, dessen obere Knöpfe offen waren und Hals und einen Teil des Dekolletés freiließen. Wieder betrachtete ich ihr Gesicht und versuchte, ihr Alter zu schätzen. Da waren Linien eingekerbt um Mund und Nase, und auf der Stirn. Trotzdem wirkte sie jung, durch ihre Körperhaltung, die Entschlossenheit, die daraus sprach. Schwer zu sagen, wie alt. Vielleicht fünfzig. Es konnten aber ebenso gut sechzig Jahre sein.
Ich sah mir die anderen Fotos an. Es war schwierig gewesen, die Bauwagen und Hütten zu entdecken. Ich hatte etwas ganz anderes erwartet, baufällige Bretterbuden, Wellblech vielleicht. Und sah gar nichts. Nach und nach erst hatte sich die Siedlung meinen Blicken erschlossen, entdeckte ich die Wohnstätten, die sich ihrer Umgebung so vollendet anpassten, dass man sie erst auf den zweiten Blick bemerkte: in den Hang geschmiegt, versteckt hinter Buschwerk, auf einem Felsvorsprung, aber doch durch Bäume den Blicken entzogen. Jeder Wagen, jede Hütte hatte so einen Nachbarn, der nah wohnte, besaß aber eine geschützte Privatsphäre, in die der Einblick verwehrt war. Die extreme Hanglage begünstigte diese Bauweise. Fast alle Häuser hatten eine Terrasse nach Südwesten hinaus, manche hatten Veranden auf Stelzen, von denen man einen wunderbaren Blick über das Flusstal haben musste.
Und es gab so viel Grün in dieser Siedlung. Mit dem Auto allerdings war sie nicht zu befahren. Der Hauptweg war steil, und die Seitenpfade schmal und kaum mit einem Fahrrad zu bewältigen. Ich hatte Kinderlachen gehört, Familien lebten hier und waren offenbar fröhlich. Katzen waren mir begegnet, gingen mir aber scheu aus dem Weg. Es gab keine Telefonzelle, keinen Supermarkt, kein Café, geschweige denn ein Restaurant. Es gab auch keinen Kinderspielplatz. Ich musste lächeln. Wozu brauchten Kinder in solch einer Umgebung einen Spielplatz. Die ganze Siedlung war ein einziger Spielplatz mit Büschen zum Verstecken, Bäumen zum Klettern, Sand zum Bauen und Wasser zum Planschen.
Aber wovon lebten die Menschen hier? Wieder betrachtete ich das Foto der Frau. Auch in den Salzwiesen brauchte man Geld zum Leben. Diese Frau sah nicht so aus, als könne irgendein Chef ihr Anweisungen erteilen. Dann dachte ich an Jamie. Sie lebte auch hier in einem dieser Häuser. Wie sie ihr Geld verdiente, und wie wenig es war, das wusste ich genau.
Ich schloss die Tür zu meinem Labor und gab der Katze Futter, die quengelnd gewartet hatte. Dann goss ich mir ein Glas Rotwein ein und gönnte mir eine Zigarette, die ich auf dem Balkon rauchte. Salzwiesen. Wer hatte diesen Namen erfunden und mit welcher Begründung. Woher kamen die Menschen dort und wie lebten sie. Die Siedlung jedenfalls, ich musste grinsen, sah ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ordentlicher. Warum zogen diese Menschen es vor, dort zu leben, warum lebten sie nicht in der Stadt, wie wir alle. Wie verdienten sie ihr Geld. Immer wieder kreisten meine Gedanken um dieselben Fragen. Und dann erinnerte ich das Gesicht der Frau und die Haare, die ihr ins Gesicht wehten. Ich würde sie fragen müssen, ob ich dieses Foto veröffentlichen durfte. Und ich wollte noch mehr Menschen aus der Siedlung sehen, fotografieren, möglicherweise mit ihnen sprechen.
Es war kühl geworden. Ich war müde. Aber noch im Einschlafen spekulierte ich über die Salzwiesen, sah im Halbschlaf die Kinder am Fluss und träumte hinüber in eine Folge von Bildern mit Bretterhütten und armselig gekleideten Gestalten, die dort hausten, und Jamie.