Rädergesang - eine Reise durch die Nacht
RaedergesangErzählung, 94 Seiten, Amazon CreateSpace, ©edition eiva 2020 - ISBN-13: 979-8628996096 - erhältlich bei Amazon
Ein Zug fährt durch eine endlos scheinende Nacht. In melancholischen Monologen erzählen die Reisenden ihre Geschichten, die sie noch immer gefangen halten.
Erst als ein Kind auftaucht, das viele Namen trägt, ändert sich die Situation langsam, fast unmerklich. In einem dramatischen Höhepunkt treffen die Erinnerungen der einzelnen auf die gemeinsame Vergangenheit: »Und immer die Züge, die durch die Nacht fahren auf schimmernden Gleisen …«
Der Zug beginnt, rückwärts zu fahren, und den Menschen im Zug scheint es zunächst gleichgültig zu sein, wohin die Reise geht. Es ist das Kind, das die Notbremse zieht!
Hörprobe:
Leseprobe:
Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, dein Vater ist in Pommernland, Maikäfer flieg. Maikäfer flieg, mein Vater war im Krieg, mein Vater flog gen Engelland, Engelland ist abgebrannt, Maikäfer flieg …
Mein Vater ist abgestürzt, mein Vater ist ein Held, Staffel-Kapitän, Offizier.
Ich hasse Fliegen, ich bin verrückt nach Fliegen, mein Vater ist ein Flieger. Ich liebe Flugzeuge, Fesselballone, Zeppeline. Ich habe Flugangst. Es ist gefährlicher, mit dem Auto zu fahren, sagt mein Vater. Oder mit dem Zug. Er ist um die ganze Welt geflogen, privat, hat jeden Kilometer aufgezeichnet, jede Flugroute im Atlas vermerkt, jeden noch so kleinen Flughafen. Ich hasse Fliegen. Ich hasse meinen Vater, immer redet er von Flugzeugen, welche Typen er geflogen ist, mit welchen Motoren.
Früher war alles besser, sagen manche. Das traut Vater sich nicht zu sagen. Aber er zeigt Bilder. Vater in Fliegeruniform. Vater neben seinem Flugzeug. Er erzählt. Von der guten alten Zeit. Wir waren jung, sagt er. Wir wussten doch nicht.
Vater ist tot. Ich habe ein Flugzeug bekommen. Ein Modell, vom Vater selbst zusammengebaut. Und sein Flugbuch: Flugstunden um -stunden, Distanzen, Orte, Abschüsse, Abschüsse, feindliche Maschine, feindliche Maschine, feindliches Objekt, Lastwagen, mit Menschen drin. Vater flog nicht gen Engelland, er flog gen Osten, gegen die Kommunistenflut. Im Flugbuch steht: Feindliches Objekt. Abgeschossen. Eine lange Liste. Hundertund… Flugzeuge, zweihundertund… Lastwagen, mit Menschen drin. Mein Vater war sehr stolz. Nie hat ein Vater mich zur Gute-Nacht geküsst.
Erzählen will ich, aber was wüsste ich denn, was nicht vor mir gedacht, gefühlt, gewusst und erzählt wurde. Und wozu all das aufschreiben, was seit Menschenerinnern immer wieder aufgeschrieben wird. Immer wieder und neu und was nutzt es. Worte wie einen Tango müsste ich erfinden, wie ein Feuerwerk, Worte, die wie das Meer die Insel zärtlich küssen oder wie bunte Blätter zu Boden trudeln. Worte, die wie ein Zug durch die Nacht rattern mit singenden Rädern.Ich werde erzählen, wie ich mit dem Zug nach Osten fahre, wo Vater einst flog. Heute fliegt kein Flugzeug über dem Zug, er muss nicht anhalten auf offener Strecke, wir werden nicht beschossen. Unermüdlich rattern die Räder auf den Gleisen und singen ein Dämmerlied. Niemand weiß von den Menschen im Waggon, sie sind, als wären sie nicht, sind wie in einem Traum. Keiner erzählt ihre Geschichte, sie sprechen nicht und wenn sie sprechen, hört keiner zu, sie bleiben leblose Schatten, die keiner sieht. Wie viele solcher Menschen mögen wohl durch diese Nacht fahren in Zügen, die keiner jemals kennen wird. Immer nur das Singen der Räder.
Ein Bahnhof taucht den heraneilenden Zug in helles Licht. Bremsen quietschen, Türen schlagen, Menschen steigen ein und aus wie Marionetten, gesichtslos, geschichtslos, ungekannt.
Wir sind noch ganz am Anfang unserer Reise, dieses hier mag Frankfurt sein. Noch viele Kilometer liegen vor uns auf glänzenden Schienen. Ein Pfiff, der Zug fährt an mit einem Ruck, beschleunigt, die Räder singen wieder ihr Schienenlied.
Ich will den Menschen in meinem Zug Gesichter  verleihen, will ihre Geschichten aufschreiben und sie aus der Anonymität dieser Zugfahrt reißen. Meine Finger sollen auf den Tasten tanzen und Wirklichkeiten entstehen lassen und ich werde mir ihre Geschichten  ausleihen und meine Geschichten hinein verweben. So wird einmal mehr neu entstehen, was seit Menschengedenken immer wieder erzählt wird, und doch immer anders.